Selbstdisruption - Wie Google dem Corporate Innovation Dilemma entkam
- Christoph Hosang
- Sep 11
- 7 min read
Einleitung: Das Corporate Innovation Dilemma
Große Technologieunternehmen scheitern nicht unbedingt daran, die nächste bahnbrechende Technologie zu erkennen. Sie scheitern daran, sie umzusetzen — vor allem dann, wenn sie das eigene, bewährte Geschäftsmodell gefährden könnte.
Gerade Tech-Corporates sind Meister darin geworden, einen klaren Product-Market-Fit zu finden und darauf ein skalierbares, globales Ökosystem aufzubauen. Sie dominieren Märkte, perfektionieren Prozesse, optimieren Gewinne — und das oft über Jahrzehnte. Think Google mit Search und Android und Apple mit iOS. Doch sobald sich die Spielregeln verändern — durch technologische Sprünge oder verändertes Nutzerverhalten — geraten sie in ein klassisches Dilemma: Verteidigen wir unsere Cash-Cow? Oder greifen wir sie selbst an, um langfristig relevant zu bleiben?
Dieses Corporate Innovation Dilemma ist der rote Faden, der sich durch viele Beispiele der Business Geschichte zieht. Es erklärt, warum Marktführer verschwinden, obwohl sie frühzeitig wussten, wohin die Reise geht.
Ein sehr oft zitiertes Beispiel ist Kodak: Über Jahrzehnte war das Unternehmen unangefochtener Marktführer in der analogen Fotografie. Kodak verdiente sein Geld nicht mit den Kameras selbst, sondern mit dem Verkauf von Fotofilmen — einem extrem margenstarken Geschäft, das weltweit in Millionen Geräten eingesetzt wurde. Und dennoch: Schon in den 1970er-Jahren entwickelte Kodak eine der ersten digitalen Kameras. Doch anstatt sie zu launchen, entschied sich das Unternehmen dagegen — aus Angst, das eigene Filmgeschäft zu kannibalisieren. Ein tragfähiges Geschäftsmodell für digitale Fotografie war damals noch nicht in Sicht. Kodak verteidigte seine Cash-Cow — und verlor in der Folge fast alles.
Dieses Muster ist kein Einzelfall. Unternehmen, die alles zu verlieren haben, fehlt oft der Mut, sich selbst infrage zu stellen. Selbst dann, wenn die Zeichen des Wandels unübersehbar sind.
Und genau an diesem Punkt stand auch Google.
Ein Unternehmen, das das digitale Zeitalter geprägt hat wie kaum ein anderes. Eine der wertvollsten Marken der Welt. Eine Firma, die mit Suchanzeigen jährlich dreistellige Milliardenbeträge verdient. Doch dann trat eine neue Schnittstelle zur Information auf die Bühne: Künstliche Intelligenz — repräsentiert durch Large Language Models und Chatbots wie ChatGPT. Plötzlich war das klassische Suchfeld nicht mehr der zentrale Zugangspunkt zum Wissen — sondern nur noch eine Option unter vielen.
Google stand vor einer klaren Entscheidung: Verteidigen wir unser bestehendes Geschäftsmodell? Oder gestalten wir die Zukunft aktiv mit — auch wenn das bedeutet, unsere Cash-Cow selbst anzugreifen?
Google entschied sich — anders als viele Unternehmen vor ihm — für die zweite Option: Selbstangriff statt Selbstschutz.
Googles Cash-Cow: Suche — eine Milliardenmaschine
Für unzählige Menschen war Google lange Zeit gleichbedeutend mit Zugang zur Welt des Wissens. „Ich suche im Internet“? Nein — man „googelt“. Die Dominanz war so tief verankert, dass „googeln“ zum Verb wurde. Google war das Tor zu Informationen, Antworten und Perspektiven — so selbstverständlich wie Wasser aus dem Hahn.
Diese Rolle machte Google zur wohl mächtigsten Instanz der Internetökonomie — und zur profitabelsten. Ein ganzes Ökosystem aus Suchanzeigen, verlinkten Inhalten, SEO-Strategien und Traffic-Leads formte eine beispiellose Gewinnmaschine.
Alphabet, Googles Mutterkonzern, erzielte allein im Jahr 2024 einen Umsatz von rund 350 Milliarden USD.
Davon stammten 198.08 Milliarden USD direkt aus dem Business rund um Google-Suche.
Damit steht fest: Googles dominante Stellung basierte auf einem milliardenschweren System aus Klicks, Links und Anzeigen — über Jahrzehnte nahezu unangreifbar.
Der technologische Vorsprung — den Google nicht nutzte
Ironischerweise war es nicht so, dass Google den KI-Trend verschlafen hätte. Im Gegenteil: Das Unternehmen gehörte über Jahre hinweg zu den Pionieren in der Entwicklung moderner KI-Technologien.
Mit der Übernahme von DeepMind im Jahr 2014 sicherte sich Google eine der talentiertesten Forschungsgruppen weltweit. Google Brain veröffentlichte 2017 das legendäre Transformer-Paper, das die Grundlage für die gesamte Welle heutiger Large Language Models (LLMs) bildet. Und auch Google Translate wurde frühzeitig zu einem Vorzeigeprojekt für den Einsatz von KI: Bereits 2016 beschrieb die New York Times in ihrem vielbeachteten Artikel „The Great A.I. Awakening — How Google Used Artificial Intelligence to Transform Google Translate“, wie Google sehr früh das Potenzial von Machine Learning erkannte und seine Dienste gezielt darauf ausrichtete. Damit unterstrich das Unternehmen schon damals seinen Anspruch, KI nicht nur im Labor zu entwickeln, sondern in großem Maßstab produktiv einzusetzen.
Gerade diese Dominanz führte allerdings auch zu Gegenbewegungen: OpenAI wurde 2015 von Elon Musk, Sam Altman und anderen gegründet — explizit als Gegenpol zu Googles wachsender KI-Vormachtstellung nach der DeepMind-Übernahme.
Doch der vielleicht wichtigste Schritt blieb unverwirklicht: LaMDA. Googles internes Sprachmodell war seinem Ruf nach „ChatGPT, bevor es ChatGPT gab“. Mustafa Suleyman, Mitgründer von DeepMind, damals Head of Applied AI bei Google DeepMind und heutiger CEO von Microsoft AI, war tief in die Entwicklung involviert. Er beschreibt rückblickend seine Frustration darüber, dass LaMDA zwar im gesamten Unternehmen getestet und bewundert wurde — aber nie veröffentlicht wurde.
„LaMDA was genuinely ChatGPT before ChatGPT. It was the first properly conversational LLM that was just incredible. And you know, everyone at Google had seen it and tried it. But half the people were brutal skeptics … afraid it would undermine search.” — Mustafa Suleyman
Die Gründe für das Zögern waren vielschichtig: Sicherheitsbedenken, die Angst vor Halluzinationen — aber vor allem die Furcht, das eigene Suchgeschäft zu kannibalisieren. Ein frei verfügbarer, konversationsfähiger Chatbot hätte die Geschäftslogik der Klick-basierten Anzeigenwelt infrage gestellt, bevor ein alternatives Monetarisierungsmodell bereitgestanden hätte.
Damit verfiel Google in genau das klassische Corporate Innovation Dilemma: Die Technologie war da, die Vision war da, die internen Talente waren da — aber der Mut, das eigene Geschäftsmodell zu attackieren, fehlte.
Diese Lücke nutzte OpenAI, das 2022 mit ChatGPT die Bühne betrat und in wenigen Monaten zum Synonym für generative KI wurde. Die Ironie ist unübersehbar: Google hatte nicht nur das Fundament für die Revolution gelegt, sondern intern sogar die fertige Anwendung — und doch war es ein anderes Unternehmen, das den globalen Durchbruch schaffte.
Der Weckruf — ChatGPT erobert die Welt
Als OpenAI im November 2022 ChatGPT veröffentlichte, veränderte sich die digitale Welt in einem Tempo, wie es selbst im Technologiesektor selten ist. Innerhalb weniger Wochen erreichte der Chatbot Millionen von Nutzerinnen und Nutzern. Anfang 2023 sprach man von ChatGPT als der am schnellsten wachsenden Consumer-Anwendung aller Zeiten.
Was den Erfolg so bemerkenswert machte: Das Interface zur Information änderte sich grundlegend. Über Jahrzehnte war das Suchfeld das Tor zum Internet gewesen — der Ausgangspunkt für jede Recherche, jede Frage, jedes Informationsbedürfnis. Nun aber war es der Chatbot, der diese Rolle übernahm. Statt eine Suchanfrage einzugeben und sich durch Links zu klicken, erhielten Nutzer sofort eine kontextualisierte, flüssige Antwort in natürlicher Sprache.
Für die Menschen bedeutete das eine enorme Steigerung an Bequemlichkeit. Für Google hingegen bedeutete es eine existenzielle Bedrohung. Denn plötzlich war nicht mehr klar, ob die Suche — und damit das Herzstück des Google-Ökosystems — auch in Zukunft das primäre Interface zur Welt des Wissens sein würde.
Besonders bitter war dabei die Symbolik: Google selbst hatte mit LaMDA intern längst ein Modell, das die Grundlage für ein solches Produkt geboten hätte. Doch während es in Mountain View auf Testumgebungen beschränkt blieb, brachte OpenAI mit ChatGPT die Technologie zur Weltöffentlichkeit — und eroberte das öffentliche Narrativ. Alles, was Google hätte sein können, war nun OpenAI.
Damit wurde deutlich: Die Zukunft von Search lag nicht mehr im klassischen Browser- oder App-Interface, sondern im Chatbot. Und weil Google nun nicht mehr Herrin über diesen Paradigmenwechsel war, musste das Unternehmen handeln.
Das bedeutete: Das eigene Geschäftsmodell — so erfolgreich und profitabel es auch war — musste jetzt angegriffen werden. Nicht mehr präventiv, bevor es andere tun könnten, sondern reaktiv, weil andere es bereits getan hatten.
Googles Wendepunkt — Selbstangriff und Produkt-Offensive
Der Markterfolg von ChatGPT war für Google ein Schockmoment — und zugleich ein Wendepunkt. Zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten musste das Unternehmen akzeptieren, dass seine Dominanz im Suchgeschäft nicht naturgegeben war. Die Schnittstelle zur Information, jahrzehntelang das klassische Suchfeld, war nicht mehr unangefochten. Die Zukunft von Search lag im Chatbot — und Google musste reagieren.
Anstatt in alte Muster zu verfallen und um jeden Preis das bestehende Geschäftsmodell zu verteidigen, entschied sich Google für einen radikalen Schritt: den Angriff auf die eigene Cash-Cow.
Das sichtbarste Zeichen dafür war die Einführung der AI Overviews in die Google-Suche. Wo Nutzer bisher eine Liste von Links erhielten, präsentierte Google nun direkt KI-generierte Antworten — kompakt, kontextualisiert, in natürlicher Sprache. Damit stellte das Unternehmen bewusst das Fundament seines milliardenschweren Anzeigenmodells infrage. Denn je mehr Nutzer ihre Antwort direkt auf der Suchseite finden, desto weniger Klicks fließen auf externe Seiten — und desto weniger Werbeeinblendungen generieren Umsatz.
Für ein Unternehmen, das einen hohen Anteil seines Umsatzes allein mit Search Ads erwirtschaftete, war dies ein Schritt, der nach klassischer Corporate-Logik fast undenkbar erscheint. Doch Google wusste: Nicht zu handeln, wäre gefährlicher gewesen als der Selbstangriff.
Parallel dazu startete Google eine beispiellose Produkt-Offensive im Bereich generativer KI:
Gemini — das Flaggschiff-Modell und direkter Konkurrent zu OpenAIs GPT, mit Features und Fähigkeiten auf absoluter Augenhöhe.
Google AI Studio — eine browserbasierte Plattform, mit der Entwickler Prototypen für generative KI-Anwendungen bauen können.
NotebookLM — ein KI-gestützter Recherche- und Schreibassistent, der Dokumente hochladen, zusammenfassen und in Konversationen verfügbar machen kann.
Veo — ein leistungsstarker KI-Videogenerator, der neue Standards bei Qualität und Steuerbarkeit setzt.
Gemini Nano / Banana — Tools für Bildbearbeitung und On-Device-Anwendungen, die KI direkt im Alltag nutzbar machen.
Das alles in bemerkenswert hoher Frequenz: Nachdem Google Anfang 2023 noch wie ein wenig wie ein abgehängter Nachzügler wirkte, brachte das Unternehmen innerhalb weniger Monate eine Serie starker Consumer-Produkte auf den Markt — und positionierte sich damit zurück an der Spitze des globalen KI-Rennens.
Das zeigt sich auch in den Rankings: In der aktuellen „Top 100 Gen AI Web Products“-Liste von a16z liegen gleich mehrere Google-Produkte weit vorne. Gemini belegt Platz 2 direkt hinter ChatGPT, Google AI Studio Platz 10 und NotebookLM Platz 13.
Damit steht fest: Google ist nicht nur bereit, das eigene Suchmodell zu kannibalisieren — es hat gleichzeitig die besten Startbedingungen geschaffen, um den Plattform-Shift in Richtung generativer KI aktiv mitzugestalten.
Fazit: Der Mut zur Selbstdisruption
Die Geschichte großer Technologieunternehmen zeigt: Wer seine Cash-Cow um jeden Preis verteidigt, riskiert, die Zukunft zu verlieren. Kodak erfand die Digitalkamera — und scheiterte, weil sie das Filmgeschäft schützen wollten.
Google hätte leicht in dieselbe Falle tappen können. Über zwei Jahrzehnte definierte die Suchmaschine den Zugang zum Wissen der Welt — und finanzierte ein Multi-Milliarden-Business. Doch dann änderte sich die Schnittstelle: Chatbots lösten die Suche als primäres Interface ab.
Anders als Kodak entschied sich Google, nicht an der Vergangenheit festzuhalten, sondern die eigene Zukunft anzugreifen. Mit AI Overviews stellte das Unternehmen bewusst sein Anzeigenmodell infrage. Mit Gemini, Google AI Studio, NotebookLM und weiteren Produkten stürzte es sich in das Rennen um die nächste große Plattform. Und die Platzierungen in den a16z-Rankings machen deutlich: Google ist längst kein Nachzügler mehr — sondern zurück an der Spitze des Innovationswettlaufs.
Natürlich bleibt vieles offen. Noch weiß niemand, wie Google seine neuen KI-Produkte monetarisieren wird. Noch ist unklar, ob Gemini oder AI Overviews jemals an die Ertragskraft der klassischen Suchanzeigen heranreichen können. Aber das ist letztlich zweitrangig. Denn was Google verstanden hat, ist die zentrale Lektion: Nicht handeln ist keine Option.
Das Corporate Innovation Dilemma zwingt Unternehmen zur Wahl: Verteidigen wir die Vergangenheit — oder gestalten wir die Zukunft? Google hat die Antwort gegeben.
Und vielleicht ist genau das der entscheidende Unterschied zu Kodak: Der Mut zur Selbstdisruption.



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